Xerostomie und Parotisstammzell-Schonung
Die Hyposalivation nach Kopf-Hals-Bestrahlung reduziert die Lebensqualität nachhaltig. Sie kann Xerostomie und nachfolgend Schluck-, Geschmack- und Sprachstörungen induzieren oder verstärken. Durch IMRT/VMAT sehen wir deutlich weniger Fälle von schwerer chronischer Xerostomie, sie tritt aber immer noch bei 30-40% auf (Nutting, Morden et al. 2011). Neue Ansätze zu weitergehender Schonung der Speicheldrüsen sind somit aus Sicht der Supportivtherapie spannend. Präklinische Daten und eine retrospektive Analyse eines größeren Patientenkollektivs weisen darauf hin, dass die gezielte Schonung der Stammzellen im Ausführungsgang der Parotis die Xerostomierate reduziert (van Luijk, Pringle et al. 2015). Diese Hypothese wurde in einer randomisierten klinischen Studie überprüft (Steenbakkers, van Rijn–Dekker et al. 2022) , open access https://doi.org/10.1016/j.ijrobp.2021.09.023.
Steenbakkers et al.: Parotid gland stem cell sparing radiation therapy for patients with head and neck cancer: a double-blind randomized controlled trial
Methodik und Ergebnisse
In der monozentrischen, randomisierten Doppelblindstudie wurden für die kurative Kopf-Hals-Bestrahlung je ein Plan mit und ohne Stammzellschonung bei vergleichbarer medianer Dosis in der gesamten ipsi- und kontralateralen Parotis erstellt und freigegeben. Eine MTRA ohne Kontakt zum Behandlungsteam aktivierte den Plan entsprechend Randomisationsergebnis. Der stimulierte Sekretfluß der Parotis sowie verschiedene klinische Endpunkte wurden verblindet 6, 12 und 24 Monate nach Strahlentherapie evaluiert.
>>>>>>>>>>>>>>>>>>>Tabelle zu Methodik und Ergebnissen der Studie
Die Gruppen unterschieden sich nur in der von den Patienten angegebenen Xerostomierate vor Therapiebeginn zu Gunsten der Gruppe Stammzellschonung (SCS-RT) (29% vs 48%, p=0,07) und der Xerostomierate tagsüber (13% vs 35%, p=0,01). Die median applizierte Dosis in der ipsi- und kontralateralen Parotis war in beiden Gruppen vergleichbar – Standardarm (ST-RT) median 32 ± 11 Gy bzw. 23 ± 8,3 Gy versus Stammzellschonung (SCS-RT) median 31 ± 10 Gy bzw. 23 ± 7,0 Gy. Die Stammzellregion konnte geschont werden – ST-RT median 26 Gy bzw. 16 versus SCS-RT median 16 Gy bzw. 11 Gy. Der Speichelfluß war in der SCS-RT-Gruppe besser, jedoch nicht signifikant, und das Ziel – Reduktion der Parotisfunktionseinschränkung von 30 % im Standardarm auf 5% im experimentellen Arm ein Jahr nach Radiatio – wurde nicht erreicht. Auch die von den Patienten berichteten Xerostomieraten waren nicht signifikant unterschiedlich mit Ausnahme nächtlicher Xerostomie 6 Monate nach RT. Die Xerostomierate tagsüber war in der Multivarianzanalyse signifikant assoziiert mit der mittleren Dosis im Stammzellbereich der ipsi- und kontralateralen Parotis 12 Monate und der kontralateralen Parotis 24 Monate nach RT. Gleiches gilt für die Xerostomie nach ärztlicher Einschätzung.
Kommentar
Die Groninger Gruppe hat langjährige Erfahrung mit der Untersuchung des Speichelflusses und der Xerostomie nach Strahlentherapie, von Tiermodellen über histopathologische Untersuchungen und Erfassungen der Lebensqualität beim Menschen bis hin zu konzeptionellen Studienplanungen und optimierter Bestrahlungsplanung (Beetz, Burlage et al. 2010; van Luijk, Pringle et al. 2015; Valstar, de Bakker et al. 2021). Die Methodik der aktuellen, randomisierten und doppel-blinden Studie war vom klinischen Ansatz und der planerischen Umsetzung beeindruckend. Dennoch war es nicht erstaunlich, dass ein signifikanter Nutzen einer Stammzellschonung im primären Endpunkt nicht belegt werden konnte, trotz der deutlichen Verbesserung bei der hochgradigen Reduktion des parotidealen Speichelflusses, allerdings nur in einem von fünf sekundären Endpunkten, und trotz der nachweisbaren Dosiswirkungsbeziehung von Stammzellen und Speichelfluss tagsüber.
- Die Dimension der erhofften Verbesserung war enorm ambitioniert (statt 30% hochgradiger Funktionseinbußen nur 5%).
- Der prätherapeutische Speichelfluss war in beiden Gruppen bereits geringer als erwartet.
- Die Standardgruppe hatte bereits initial eine signifikant schlechtere Parotisfunktion und damit weniger zu verlieren.
- Die mediane Dosis in den Parotiden war niedriger als gedacht und nicht signifikant verschieden, sodass strahlenbedingte Effekte in den Parotiden jenseits der Stammzellen in beiden Studienarmen identisch zu erwarten waren.
- Bei 4 von 5 sekundären Endpunkten wie allgemeines Gefühl der Xerostomie spielt auch die Funktion der anderen Speicheldrüsen eine enorme Rolle.
- Die Dosisverteilung in den anderen großen und den kleinen Speicheldrüsen wurde bei der Studienplanung nicht berücksichtigt, obwohl diese im Normalzustand weit mehr als 50% der Speichelproduktion ausmachen.
- Bei 20% der Patienten fehlten die Daten 12 Monate nach Therapie, dem Zeitpunkt der Erfassung des primären Endpunktes.
Wie komplex die Überlegungen mittlerweile sind, und dass eine gezielte Schonung von Substrukturen in den Speicheldrüsen eine Rolle spielen kann, wurde durch die Arbeitsgruppe in Zusammenschau mit vorangehenden Publikationen belegt, nur ist der Effekt klinisch geringer als erhofft. Dies belegt die Bewertung der Xerostomie in der Studie durch die Patienten anhand des Groninger Fragebogens, mit einer geringeren Mundtrockenheit untertags bei den Patienten im experimentellen Arm der Stammzellschonung. Vor allem die komplexe Anatomie und Physiologie der Speichelproduktion (Smith 2012; Whelton 2012)) sowie die vielfältigen radiogenen Veränderungen in den Speicheldrüsen auch jenseits der Stammzellen (van Luijk, Pringle et al. 2015; Dos Santos, Perez Gomes et al. 2020) erschweren jedoch die Detektion der Bedeutung von pathologischen, pathophysiologischen und klinischen Einzeleffekten an Stammzellen.
Die Verhinderung einer Xerostomie bleibt eine komplexe klinische Herausforderung. Die Schonung der Gesamtheit der funktionellen Einheiten der großen und kleinen Speicheldrüsen ist durch die Möglichkeiten der perfekten Fixationen und optimierten Bestrahlungsplanung verbessert worden. Die individualisierten Zielvolumenkonzepte in der kurativen perkutanen Strahlentherapie von Kopf-Hals-Tumoren, basierend auf mehr Faktoren als nur dem Tumorstadium, erschweren jedoch die Detektion relevanter systematischer Maßnahmen zum Erhalt der Lebensqualität im Rahmen von klinischen Studien. Vor diesem Hintergrund ist die Publikation von Steenbakkers et al. sehr lesenswert, bietet sie doch einen Einblick in die zunehmend komplexeren methodischen Herausforderungen der Xerostomie-Forschung.
Literatur
Beetz, I., F. R. Burlage, et al. (2010). „The Groningen Radiotherapy-Induced Xerostomia questionnaire: development and validation of a new questionnaire.“ Radiother Oncol 97(1): 127-131.
Dos Santos, W. P., J. P. Perez Gomes, et al. (2020). „Morphology, Volume, and Density Characteristics of the Parotid Glands before and after Chemoradiation Therapy in Patients with Head and Neck Tumors.“ Int J Dent 2020: 8176260.
Nutting, C. M., J. P. Morden, et al. (2011). „Parotid-sparing intensity modulated versus conventional radiotherapy in head and neck cancer (PARSPORT): a phase 3 multicentre randomised controlled trial.“ Lancet Oncol 12(2): 127-136.
Smith, P. M. (2012). Mechanisms of salivary secretion, Stephen Hancocks Ltd.
Steenbakkers, R. J. H. M., M. I. van Rijn–Dekker, et al. (2022). „Parotid Gland Stem Cell Sparing Radiation Therapy for Patients With Head and Neck Cancer: A Double-Blind Randomized Controlled Trial.“ International Journal of Radiation Oncology, Biology, Physics 112(2): 306-316.
Valstar, M. H., B. S. de Bakker, et al. (2021). „The tubarial salivary glands: A potential new organ at risk for radiotherapy.“ Radiother Oncol 154: 292-298.
van Luijk, P., S. Pringle, et al. (2015). „Sparing the region of the salivary gland containing stem cells preserves saliva production after radiotherapy for head and neck cancer.“ Sci Transl Med 7(305): 305ra147.
Whelton, H. (2012). Introduction: the anatomy and physiology of salivary glands, Stephen Hancocks Ltd.