Neues zu Hyperbarer Sauerstofftherapie und Osteoradionekrose

Die Osteoradionekrose (ORN) nach Strahlentherapie von Kopf-Hals-Tumoren ist eine schwerwiegende Komplikation. Sie manifestiert sich als Schleimhautdefekt mit freiliegendem Knochen, der nicht innerhalb von 3 Monaten abheilt. Die ORN kann mit konservativen Maßnahmen ausheilen, erfordert aber häufig chirurgische Sanierung im Sinne einer Sequesterentfernung oder Kasten-/Spangenresektion bis hin zur kompletten Entfernung und Rekonstruktion ganzer Kiefer(-anteile).
Die Hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) wurde schon früh zu Therapie und Prophylaxe eingesetzt. Die HBO stimuliert die Angiogenese, erhöht die Neovaskularisation sowie Fibroblasten- und Osteoblastenproliferation und Kollagenformation. Dadurch soll eine verbesserte Schleimhautstabilität und zügigere Heilung erreicht sowie der Gewebezusammenbruch verhindert werden. Die wenigen Studien zum Nutzen der HBO ergaben widersprüchliche und unsichere Ergebnisse (Cochrane Analysen Bennett, Feldmeier et al. 2016; El-Rabbany, Duchnay et al. 2019). Jetzt liegen sowohl zur Prophylaxe als auch Therapie der Osteoradionekrose des Kiefers mit HBO moderne Phase II-III Studien vor (Shaw, Butterworth et al. 2019; Forner, Dieleman et al. 2022).

Shaw et al: HOPON (Hyperbaric Oxygen for the Prevention of Osteoradionecrosis): a randomized controlled trial of hyperbaric oxygen to prevent osteoradionecrosis of the irradiated mandible after dentoalveolar surgery (2019)

Zu den Risikofaktoren für die ORN des Kiefers werden Zahnextraktionen und Dentalimplantate gezählt. Daher wurde die HBO zur Prophylaxe der ORN vor geplanter Zahnextraktion oder Dentalimplantat in einer multizentrischen, randomisierten, offenen, kontrollierten Studie untersucht (Shaw, Butterworth et al. 2019).

Methodik und Ergebnisse
Patienten mit Vorbestrahlung von mindestens 50 Gy im Bereich des geplanten Eingriffs erhielten eine perioperative HBO, eine Kontrollgruppe wurde ausschließlich beobachtet. Beide Gruppen erhielten postoperativ Chlorhexidin-Mundspülungen und Antibiotika nach Protokoll. Verblindete Untersucher beurteilten anhand klinischer Fotos und Röntgenaufnahmen das Vorliegen der ORN. Der primäre Endpunkt war die Reduktion der Inzidenz der ORN 6 Monate nach Eingriff von 18,5 auf 5% (odds ratio OR 0,23), sekundäre Endpunkte waren ORN nach 3 und 12 Monaten, Schmerzen, Schweregrad der akuten Symptomatik und die Lebensqualität.

Die Dropout-Rate war wie erwartet hoch, besonders in der Interventionsgruppe. Schwerwiegende Nebenwirkungen der HBO wurden nicht beobachtet, die Lebensqualität war in beiden Gruppen vergleichbar. In der geplanten Interimsanalyse von 100 Patienten zeigte sich eine unerwartet niedrige Inzidenz der ORN mit 6% in beiden Gruppen. Daher wurde eine Effektivitätsanalyse der HBO als unmöglich eingeschätzt (1500 Patienten nötig für den Nachweis von 5% Nutzen der HBO (Shaw 2022), die Studie wurde abgebrochen.

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>Tabelle zu Methodik und Ergebnissen der Studie

Kommentar
Diese Studie ist die erste Folgestudie zweier sehr früher Studien von Marx et al. (Bennett, Feldmeier et al. 2016) zum Wert der HBO als Prophylaxe von ORN nach Eingriffen am bestrahlten Kiefer. Im Unterschied zur Vorläuferstudie war ein Nutzen der perioperativen HBO nicht nachweisbar und wird daher von den Autoren nicht empfohlen. Die Gründe für die gegenüber der früheren Studie niedrige Inzidenz von 6% können nur diskutiert werden. Die konsequente Mundpflege und perioperative Antibiose sind in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Sie werden in der Routine unzureichend durchgeführt, daher kann die Häufigkeit in der wirklichen Welt höher sein (McLeod, Bater et al. 2010)). Auch die Schonung der Speicheldrüsen durch IMRT/VMAT mit verbessertem Mikromilieu enoral könnte zur Stabilität der Mukosa beitragen. Es ist aber auch möglich, dass ein korrekt durchgeführter Eingriff mit primärem Wundverschluß, perioperativer Antibiose und nachfolgender Intensiver Mundpflege das ORN-Risiko nicht erhöht, sondern nur den Zeitpunkt der Manifestation der ORN bestimmt.

Der Risikofaktor Zahnextraktion ist allgemein akzeptiert (AWMF 2018). Allerdings ist die Datenlage hierzu uneindeutig (Aarup-Kristensen, Hansen et al. 2019; Balermpas, van Timmeren et al. 2022). In dieser Studie hatte die Anzahl der Extraktionen, von null bis multipel, keinen Einfluß auf die ORN-Rate, bei allerdings sehr kleinen Ereigniszahlen.

In der aktuellen Studie waren die Einschlusskriterien, Patientenmerkmale, die (Vor-)Therapie und die verblindete Evaluation im Gegensatz zur Vorgängerstudie sehr gut definiert. Das ermöglicht auch Aussagen über den Verlauf der ORN: alle ORNs traten innerhalb von 6 Monaten nach Eingriff bzw. Randomisation auf, keine der ORN war innerhalb des ersten Jahres abgeheilt.

Zusammenfassend ist das Risiko einer ORN nach Zahnextraktionen oder Dentalimplantaten so niedrig, dass eine prophylaktische HBO, die einen beträchtlichen Aufwand und Kosten hat sowie relevante Nebenwirkungen haben kann, nicht gerechtfertigt ist.

Forner et al.: Hyperbaric oxygen treatment of mandibular osteoradionecrosis: Combined data from the two randomized clinical trials DAHANCA-21 and NWHHT2009-1 (2022)

Dieselben Studiengruppen, die sich mit der Prophylaxe der ORN beschäftigten, führten auch Studien zur perioperativen HBO bei Resektionsbedürftiger ORN durch.

Methodik und Ergebnisse
Zwei multizentrische, offene, kontrollierte, randomisierte Studien wurden in den Niederlanden, Großbritannien und Dänemark mit aufeinander abgestimmten Protokollen durchgeführt und gemeinsam ausgewertet (Forner, Dieleman et al. 2022). Unterschiede gab es lediglich in der Wahl der sekundären Endpunkte – Lebensqualität und weitere Nebenwirkungen wurden nur in der dänischen Studie untersucht.

Patient:innen mit einer ORN CTCAE v3.0 Grad 2-4, die eines chirurgischen Eingriffs bedurften, wurden in OP versus HBO + OP randomisiert. Der primäre Endpunkt war die Anzahl der abgeheilten ORN (0 CTCAE Grad 0-1) 12 Monate nach dem Eingriff.

97 Patient:innen wurden randomisiert, 65 Patient:innen waren auswertbar. 12 Monate nach OP waren in der HBO-Gruppe 21/30 ORN (70%) abgeheilt gegenüber der Kontrollgruppe 18/35 ORN (51%), OR 2,2 (95%KI* 0,7-7,0) p=0,13. Die geplante Zahl von 234 Patient:innen, die für den Nachweis einer Differenz von 25% erforderlich war, konnte nicht erreicht werden. Die Patientencharakteristika waren nicht signifikant unterschiedlich (kleine Zahlen!), die Rate an Rauchenden gegenüber Nie-/Nicht mehr-Rauchenden war in der HBO-Gruppe mit 40% vs 27%/33% höher als in der Kontrollgruppe 23% vs 20%/57% und damit evtl. zu Ungunsten der HBO, die Art der chirurgischen Eingriffe war vergleichbar. In der Multivarianzanalyse war der Effekt der HBO unabhängig von Raucherstatus, Alter, Geschlecht, Ausgangsgrad der ORN, OP-Typ. Dies ist wegen der kleinen Fallzahl mit sehr großer Einschränkung zu bewerten.

Eine Analyse der sekundären Endpunkte wurde durchgeführt, wurde aber als nicht sinnvoll eingeschätzt wegen kleiner Fallzahl und offenem Studiendesign. Nebenwirkungen der HBO wurden nicht berichtet.

>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>Tabelle zu Methodik und Ergebnissen der Studie

Kommentar
Diese Studie ist die erste randomisiert-kontrollierte Studie zur perioperativen HBO-Therapie bei relevanter manifester ORN seit den Studien von Marx et. al. (publiziert vor 30-40 Jahren (Bennett, Feldmeier et al. 2016; El-Rabbany, Duchnay et al. 2019). Sie zeichnet sich aus durch Auswahl von Patient:innen mit relevanter ORN, Einsatz eines Standard-HBO-Protokolls, dokumentierte OP-Verfahren, die Verwendung einer etablierten Klassifikation der ORN und Berücksichtigung wichtiger Kofaktoren. Schwachpunkte der Studie sind die Teilnahmen zahlreicher Zentren ohne Stratifikation, der lange Studienverlauf von 10 Jahren und die hohe drop out-Rate. Die deutlich höhere Heilungsrate in der HBO-Gruppe von 70% vs 51% in der Kontrollgruppe, OR 2,2, erreichte wegen der kleinen Patientenzahl kein statistisches Signifikanzniveau. Damit ist weiterhin der Nutzen der HBO nicht zweifelsfrei erwiesen.

Die Autoren führen als Gründe für die schwierige Patientenanwerbung die insgesamt niedrige ORN-Rate nach IMRT/VMAT-Therapie an sowie die Zurückhaltung der Patient: innen gegenüber einer Studienteilnahme, da sie freien Zugang zur HBO außerhalb der Studie hatten. In den Niederlanden wird zum Beispiel die HBO öfters eingesetzt (Dieleman, Meijer et al. 2021).

Zwei Cochrane-Analysen (Bennett, Feldmeier et al. 2016; El-Rabbany, Duchnay et al. 2019) bewerten drei weitere Studien als sehr eingeschränkt aussagekräftig: drei aus einer Gruppe (Marx et al.), die eine verbesserte Heilung nach HBO und Chirurgie zeigten, wegen erheblicher methodischer Mängel und eine randomisierte, placebo-kontrollierte Studie (Annane, Depondt et al. 2004),die eine Reduktion der Heilung durch HBO mit RR 0.60 (95% KI 0,25 -1,41; p =.0,23) beschrieb, ebenfalls wegen methodischer Mängel (insbesondere wegen Einschluß von Patienten mit geringgradiger ORN und sehr kleiner Patientenzahl).

Eine Wiederholung der aktuellen Studie ist zwar wünschenswert, aber kaum zu erwarten, so dass im Wesentlichen auf der Grundlage dieser Studie über die HBO zu entscheiden sein wird. Der Einschätzung der Autoren kann man zustimmen „ no recommendation can be done to abandon the use of HBO in the treatment of ORN based on this study … This would be a type II error due to the fact that the trial was underpowered and the results, therefore, are not significant “. Aktuell wird in Deutschland der Einsatz der HBO außerhalb von Studien nicht empfohlen (AWMF 2018), aber die aktuelle Studie wird in den Leitlinienkommissionen zu diskutieren sein.

Literatur

Aarup-Kristensen, S., C. R. Hansen, et al. (2019). „Osteoradionecrosis of the mandible after radiotherapy for head and neck cancer: risk factors and dose-volume correlations.“ Acta Oncol 58(10): 1373-1377.

Annane, D., J. Depondt, et al. (2004). „Hyperbaric oxygen therapy for radionecrosis of the jaw: a randomized, placebo-controlled, double-blind trial from the ORN96 study group.“ J Clin Oncol 22(24): 4893-4900.

AWMF (2018). „S2k-Leitlinie: Infizierte Osteoradionekrose (IORN) der Kiefer.“

Balermpas, P., J. E. van Timmeren, et al. (2022). „Dental extraction, intensity-modulated radiotherapy of head and neck cancer, and osteoradionecrosis : A systematic review and meta-analysis.“ Strahlenther Onkol 198(3): 219-228.

Bennett, M. H., J. Feldmeier, et al. (2016). „Hyperbaric oxygen therapy for late radiation tissue injury.“ Cochrane Database Syst Rev 4(4): CD005005.

Dieleman, F. J., G. J. Meijer, et al. (2021). „Does hyperbaric oxygen therapy play a role in the management of osteoradionecrosis? A survey of Dutch oral and maxillofacial surgeons.“ Int J Oral Maxillofac Surg 50(2): 273-276.

El-Rabbany, M., M. Duchnay, et al. (2019). „Interventions for preventing osteoradionecrosis of the jaws in adults receiving head and neck radiotherapy.“ Cochrane Database Syst Rev 2019(11).

Forner, L. E., F. J. Dieleman, et al. (2022). „Hyperbaric oxygen treatment of mandibular osteoradionecrosis: Combined data from the two randomized clinical trials DAHANCA-21 and NWHHT2009-1.“ Radiother Oncol 166: 137-144.

McLeod, N. M., M. C. Bater, et al. (2010). „Management of patients at risk of osteoradionecrosis: results of survey of dentists and oral & maxillofacial surgery units in the United Kingdom, and suggestions for best practice.“ Br J Oral Maxillofac Surg 48(4): 301-304.

Shaw, R., C. Butterworth, et al. (2018). „HOPON (Hyperbaric Oxygen for the Prevention of Osteoradionecrosis): a randomised controlled trial of hyperbaric oxygen to prevent osteoradionecrosis of the irradiated mandible: study protocol for a randomised controlled trial.“ Trials 19(1): 22.

Shaw, R., B. Tesfaye, et al. (2017). „Refining the definition of mandibular osteoradionecrosis in clinical trials: The cancer research UK HOPON trial (Hyperbaric Oxygen for the Prevention of Osteoradionecrosis).“ Oral Oncol 64: 73-77.

Shaw, R. J., C. J. Butterworth, et al. (2019). „HOPON (Hyperbaric Oxygen for the Prevention of Osteoradionecrosis): A Randomized Controlled Trial of Hyperbaric Oxygen to Prevent Osteoradionecrosis of the Irradiated Mandible After Dentoalveolar Surgery.“ Int J Radiat Oncol Biol Phys 104(3): 530-539.

Shaw, R. J., C. J. Butterworth, et al. (2022). „In reply to Laden.“ Int J Radiat Oncol Biol Phys 112(3): 835-836.

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